Aus einem Holzblock wird Kunst
„Jeder trägt Kreativität in sich“, da ist sich Fred Rottenbach sicher. Er ist der Leiter der Schnitzschule in Empfertshausen. „Es ist nur wichtig, mit offenen Augen durch die Welt zu gehen.“ Seit 1898 wird in dem kleinen Dorf in der Rhön die Ausbildung zum Holzbildhauer angeboten. Das ist eine Besonderheit, denn in ganz Deutschland gibt es nur zehn Schulen dieser Art.
Wer durch das Schulgebäude läuft, verfällt schnell ins Staunen.
In den Fluren sind Wände und Vitrinen mit Arbeiten ehemaliger Schüler geschmückt: Dutzende Skulpturen, filigrane Pflanzenreliefs, beinah lebendig wirkende Lebewesen. „Im ersten Lehrjahr kommt man hier rein und sieht die geschnitzten Menschen und Tiere und denkt sich: ‚Boar! Dass ich das auch mal können soll!‘ Aber in den drei Jahren lernt man so viel“, erinnert sich Carolin. Die 26-Jährige ist bereits im dritten und letzten Lehrjahr ihrer schulischen Ausbildung zur Holzbildhauerin.
Peter und Magdalena stehen dagegen noch ganz am Anfang.
Im ersten Lehrjahr lernen sie gerade die Grundlagen des Schnitzens. „Anfangs muss man erst lernen, das Holz zu verstehen“, erzählt die 19-jährige Schülerin. „Da haben wir erstmal nur drumherum und Rillen geschnitzt.“ Woran sie sich gewöhnen musste, war der Muskelkater in den Fingern und im Rücken. Denn die Arbeit mit Schnitzeisen erfordert neben Fingerspitzengefühl auch viel Kraft.
Inzwischen sind die beiden schon weit darüber hinaus, nur einfache Rillen zu schnitzen.
Peter arbeitet zurzeit an einem Dackel aus Lindenholz. „Wir arbeiten sehr viel mit Linde, weil das Holz sehr weich und billig ist.“ Eiche ist im Gegensatz zur Linde ein Hartholz und dadurch schwieriger zu verarbeiten. Es bricht schneller, ist aber besser für Draußen geeignet. Generell verarbeiten sie an der Schnitzschule sowohl Stammholz als auch Brettware. Der 20-jährige Peter kommt ursprünglich von einem ganz anderen Werkstoff: dem Glas. Nach seiner erfolgreichen Ausbildung zum Glasbläser stand er vor der Entscheidung, was er damit machen möchte. Auch eine weitere Ausbildung zum Glasapparatebauer habe zur Auswahl gestanden. „Aber mit der Ausbildung zum Holzbildhauer habe ich die Perspektive, mich als Künstler selbstständig zu machen. Ich kann mir gut vorstellen, Glas und Holz künstlerisch zu verbinden.“
Ebenso wie Peter hat auch Magdalena früher schon gerne gemalt und gezeichnet.
Insbesondere Menschen hatten es ihr angetan. Umso passender ist es, dass ihre Klasse momentan Nasen, Münder und Augen aus Holz schnitzt. Auch sie kann sich vorstellen, sich später selbstständig zu machen. Eine andere Möglichkeit ist die Arbeit in einem handwerklichen Betrieb. „Tatsächlich werden nur die wenigsten, die hier ihre Ausbildung abschließen, Künstler“, erzählt Schnitzschulleiter Fred Rottenbach. „Es sind vielleicht nur ein bis zwei Prozent. Viele lernen danach einen weiteren Beruf, wie zum Beispiel Tischler oder Keramiker. Oder sie nutzen ihren Gesellenbrief zum Studieren.“
Carolin hat bereits während ihres zweiten Lehrjahres ihre Freiberuflichkeit angemeldet.
Zu dem Zeitpunkt habe sie bereits erste Aufträge von Freunden und Bekannten erhalten. Geholfen habe ihr dabei die Schülerfirma Tilia. Die habe Carolin sehr gut auf die Selbstständigkeit vorbereitet. „Dort habe ich unter anderem gelernt, wie ich einen Kostenvoranschlag erstelle.“ Grundlegende Kenntnisse in der Wirtschaftslehre hat sie im Unterricht der Schnitzschule erhalten. Neben den klassischen Fächern, die an jeder Berufsschule gelehrt werden, bekommen die Schnitzschüler fachtheoretischen Unterricht in den Lerngebieten „Der Werkstoff Holz“, „Entwerfen von Holzhauerarbeiten“, „Holzbearbeitung“, „Hilfswerkstoffe“ und „Liefern, Versetzen und Verankern von Holzbildhauerarbeiten“. Im dritten Lehrjahr lernen die Schnitzschüler auch den Umgang mit der Kettensäge.
„Das Schöne an der Ausbildung an der Schnitzschule ist, dass wir uns mit Themen beschäftigen können, die uns selbst interessieren“, sagt Carolin.
Sie bekämen eine Richtungsvorgabe wie „Tier in geschlossener Haltung“ und könnten dann selbst entscheiden, welches Tier sie schnitzen und wie sie es präsentieren möchten. Ihr Werk war beispielsweise ein Frosch, den sie an eine Scheibe geklebt hatte. „Das Arbeitsklima hier ist: ‚Macht mal! Ihr kriegt das schon hin.‘ Dadurch sind wir sehr selbstständig“, berichtet sie.
Carolin schnitzt gerade an der Vorarbeit ihres Gesellenstücks.
Sie möchte eine Skulptur in Form einer Drag Queen gestalten. Diese Vorarbeit ist jedoch ein eigenständiges Kunstwerk. Aus drei Holzblöcken, die sie zusammengeleimt hat – und wo man die Leimfugen nur bei ganz genauem Hinsehen erkennt – hat sie bereits die Figur geschnitzt. „Die Außenkonturen habe ich an der Bandsäge geschnitten. Jetzt muss ich an der Haarstruktur weitermachen. Die Vorarbeit ist dafür da, um meine Ideen zu testen. Ich möchte meine Drag Queen später mit Aquarell bemalen. Da ist die Frage, ob das fleckig wird. Außerdem möchte ich ihr künstliche Wimpern aufkleben. Auch da muss ich probieren, wie sie am besten halten.“ Ihr fertiges Gesellenstück wird im Anschluss für zwei Jahre in der Schnitzschule Empfertshausen ausgestellt. (sa)
Fotos: Sandra Böhm