„Nichts zu machen, ist keine Option“ 

Die Zeit des Schulabschlusses ist für viele Jugendliche eine Zeit der Unsicherheit und des Drucks. Druck von außen und vom Selbst, die beste Entscheidung für die Zukunft treffen zu müssen. Wir sprachen mit der Vorsitzenden der Geschäftsführung der Agentur für Arbeit Thüringen Mitte, Irena Michel, darüber, wie sich dieser Druck verringern lässt und ob er überhaupt notwendig ist.

 

Irena Michel, Geschäftsführerin der Agentur für Arbeit Thüringen Mitte. Foto: Andreas Pöcking

Frau Michel, wenn wir uns die aktuelle Lage am Arbeits– und Ausbildungsmarkt anschauen, stellen wir fest, dass es jungen Menschen nicht an potenziellen Ausbildungsplätzen und Arbeitsmöglichkeiten mangelt, sondern, dass viel mehr ein Überangebot existiert. 

Genau das ist das Dilemma, in dem sich viele junge Menschen befinden. Sie werden aus allen Richtungen mit vielschichtigen Informationen bombardiert, die nicht unbedingt passend für das Gemüt der jeweiligen Person sind. Das beginnt schon beim Wechsel von der Grundschule zu einer weiterführenden Schule. Da müssen die Eltern schon eine Entscheidung treffen, die mit Angst besetzt ist, das Kind könnte dadurch später soziale Nachteile haben.

Davon müssen wir uns lösen und uns die Frage stellen, was für das Kind der größtmögliche Erfolg ist. Nicht für mich, sondern für mein Kind. Wenn ich feststelle, dass mein Kind schulmüde ist, kann es der richtige Weg sein, sich vom höchstmöglichen Bildungsweg zu lösen und statt einem mittelprächtigen Abi lieber einen guten Realschulabschluss zu machen und schneller ins Berufsleben zu starten. Unser Bildungssystem ist inzwischen viel durchlässiger und nicht so steif wie früher. Auch mit einer Ausbildung ist ein hoher Weiterbildungsgrad möglich. Da Druck aufzubauen, indem man den Jugendlichen schon ab der siebten Klasse vermittelt, dass sie sich sofort für einen zukünftigen Lebensweg entscheiden müssen, halte ich für fahrlässig. 

Das Ziel sollte viel mehr sein, irgendeine Entscheidung in den Jugendlichen zu begünstigen. Ob das die Entscheidung für das ganze Leben sein wird, wage ich zu bezweifeln, weil es in unserer aktuellen Situation, in der wir uns gesamtgesellschaftlich, aber auch in den familiären Strukturen befinden, gar nicht sinnvoll ist, eine Lebensentscheidung zu treffen. Viel mehr geht es um eine Lebensabschnittsentscheidung, darum, eine gute Basis zu schaffen, bestimmte Fähigkeiten und Kompetenzen zu entwickeln, um sich weiterzuentwickeln. Resilienz und Flexibilität sind da gefragt. Am Ende ist es immer gut, irgendetwas zu machen, selbst wenn man erstmal jobbt oder sich ausprobiert, um herauszufinden, was nicht zu einem passt. Nichts zu machen ist keine Option und immer eine schlechte Idee. Der Arbeitsmarkt für den Nachwuchs ist auf jeden Fall da. 

Bei wem ist dieser Entscheidungsdruck denn Ihrer Erfahrung nach stärker spürbar, bei den Eltern, oder bei deren Kindern?

Kinder und Jugendliche leben primär in einem recht kleinen Gefüge, nämlich der Familie. Da sind Generationsunterschiede sehr deutlich und unmittelbar spürbar. Die in den 70ern oder 80ern Geborenen haben keine einfache Situation erlebt, denn in Hinblick auf die Berufswahl, beziehungsweise die Ausübung des Berufs prallten zwei Gesellschaftssysteme aufeinander. Dadurch haben viele heutige Elternteile erlebt, wie ihre eigenen Eltern arbeitslos geworden sind und sich durchkämpfen mussten.

Das macht natürlich etwas mit einem während der eigenen Berufsorientierung und sorgt dafür, diese Umbruchssituationen für das eigene Kind verhindern zu wollen, indem man die richtige Schule auswählt oder vermittelt, dass es nur mit einem bestimmten Abschluss etwas werden könne. Die Kinder sehen das meist völlig anders. Heutige Jugendliche nehmen Arbeitslosigkeit nicht so bedrohlich wahr wie ihre Eltern und Großeltern. Dadurch sind die Themen der Berufssuche und des Einfindens ins Berufsleben auch nicht so sehr mit Angst verbunden. 

Daran schließt sich an, dass wir früher in Mitteldeutschland von einer nicht allzu hohen Einkommenssituation betroffen waren. Da waren viele Eltern, besonders in mittelständischen Haushalten, finanziell nicht so gut aufgestellt. Auch Akademikerfamilien nicht. Aber ganz besonders Handwerker und Dienstleistungsberufe waren betroffen.

Inzwischen befinden wir uns aber in einer ganz anderen Situation. Fachkräfte in der Industrie und im Handwerk können inzwischen ein sehr gutes Einkommen erzielen und die Kompetenzen, die in einer Ausbildung vermittelt werden, reichen vollkommen für ein gutes Leben aus. Das müssen wir Eltern und Großeltern teilweise noch vermitteln. 

Welche Tipps möchten Sie Eltern zur Berufsorientierung ihrer Kinder mit auf den Weg geben?

Es wäre schön, wenn Eltern ihren Kids anbieten, sich zu unterhalten und auch mal zu erklären, was sie überhaupt beruflich machen. Ich meine damit nicht, dass man den Kindern sagt, welchen Abschluss man hat, sondern woraus der Arbeitsalltag besteht. Was genau ist es, was Sie tun? Und ganz wichtig: Bleiben Sie positiv! Heben Sie nicht die Sachen hervor, die Sie nerven und spielen Sie Ihre Aufgaben nicht herunter, sondern versuchen eine Formulierung zu finden, die möglichst interessant klingt und das Interesse Ihres Kindes weckt. 

Dann sollten Sie natürlich mit Ihrem Kind aufgeschlossen durch die Welt gehen und Informationsveranstaltungen in der eigenen Region nutzen. Es gibt Berufsinfomessen, Tage der offenen Tür oder Gewerbegebietsfeste, wo Sie direkten Einblick in Betriebe erhalten und das meist kostenfrei. 

Binden Sie, sofern möglich, auch unbedingt die Großeltern ein. Die sind innerhalb der Familie meist diejenigen, mit denen die Jugendlichen noch kommunizieren, wenn die Eltern gerade “doof” oder “total peinlich” sind. Identifizieren Sie jemanden außerhalb des elterlichen Gefüges, der in der Zeit der Pubertät für den Jugendlichen ansprechbar ist. Kinder neigen dazu, ihren Eltern zu widersprechen und da wäre es gut, jemanden zu haben, der diese Rolle als Orientierungsstütze übernehmen könnte und als nicht ganz so komischer Erwachsener wahrgenommen wird. 

Was ich unbedingt noch mitgeben möchte, und ich weiß das klingt jetzt anmaßend, muss aber gesagt sein: Projizieren Sie bitte nicht die eigenen Ängste in Fragen der Berufswahl auf Ihr Kind. Ich glaube, dass unsere Generation sehr starke blinde Flecke hat, was die heute tatsächlich vorhandenen Möglichkeiten angeht. Was wird in meiner Region wirklich gemacht? Was lässt sich hier wirklich verdienen? Da sind Eltern oft nicht auf dem aktuellen Stand und es hilft manchmal schon, in das Gewerbegebiet um die Ecke zu fahren, sich umzuschauen und zu fragen, was die Firmen dort überhaupt machen.

Oder, noch besser, das Kind in dem Moment googeln oder bei Instagram schauen zu lassen, ob der Betrieb eine Seite hat und was sich dort finden lässt. Die Kinder sind sowieso den ganzen Tag am Handy und im Internet, da kann man die Berufsorientierung spielend einbauen, indem man interessierte Fragen stellt. Jugendliche wollen teilhaben und nicht ausgegrenzt werden. Das gilt in der Berufsorientierung ebenso wie in der Ausbildung und im beruflichen Alltag. Trotzdem muss die Berufsorientierung gut dosiert sein und das Kind natürlich nicht alles mitmachen. Dass es ab und an mal eine Pause braucht ist völlig in Ordnung.

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