„Der Unterrichtsausfall ist für mich die stille Krise unseres Landes“ 

Seit Dezember 2024 ist Mario Voigt als Ministerpräsident Thüringens im Einsatz. Er und seine Regierung haben es sich auf die Fahne geschrieben, das Thema Bildung verstärkt in den Fokus zu rücken. Wie das aussehen soll, hat er uns im Interview verraten.

 

Mario Voigt, Ministerpräsident Thüringens. Foto: Thüringer Staatskanzlei / Andreas Pöcking

Herr Voigt, Sie sind nicht nur Ministerpräsident, sondern selbst Vater und das Thema Berufsorientierung ist womöglich auch für Sie bereits relevant, oder wird es bald werden. Wie gehen Sie an das Thema heran?

Meine Kinder sind gerade in der 5. und 7. Klasse, insofern gehen sie auf diesen Weg zu. Für mich ist jetzt erstmal wichtig, dass sie sich in ihren Begabungen und Interessen ausprobieren können, gleichzeitig aber auch Kompetenzen für die Zukunft erwerben und fürs Leben gewappnet sind. Dazu gehört zum Beispiel, im Team spielen zu können, weshalb es mir wichtig war, dass sie einen Teamsport ausüben. Aber auch Verantwortung zu übernehmen und eine Aufgabe zu Ende zu führen, ist ein wichtiger Punkt, den ich vermitteln möchte. Diese Form von Vorbereitung aufs Leben spielt für mich eine große Rolle, und ich denke, es hilft den Kindern, den richtigen Weg zu wählen. Sie sollen für ihr Leben etwas Sinnerfüllendes finden. Das gilt für jedes Kind.

Damit auch für Kinder mit Beeinträchtigung. Gibt es diesbezüglich Stellschrauben, an denen sich drehen lässt, um ihnen den Einstieg ins Berufsleben zu erleichtern, beziehungsweise zu ermöglichen?

Es braucht ein gesellschaftliches Verständnis dafür, dass jedes Kind und jeder Jugendliche eine Begabung mitbringt und alle gleichermaßen wertgeschätzt werden. Ich bin niemand, der versucht, Kinder und Jugendliche in ein Modell zu pressen, weil das ihrer Unterschiedlichkeit nicht gerecht wird. Wir brauchen Orientierung und müssen auf die individuellen Bedürfnisse eingehen. Gemeinsam mit den Kammern müssen wir Angebote entwickeln, die es auch Kindern mit Beeinträchtigungen ermöglichen, eine reguläre Ausbildung zu absolvieren. Denn wir können auf niemanden verzichten und wollen jedem die bestmöglichen Chancen bieten.

Nun sind der Arbeits- wie auch der Ausbildungsmarkt heutzutage recht durchlässig, sodass die Entscheidung für einen bestimmten Weg nicht bedeuten muss, dass dieser Weg unumstößlich ist.

Ich glaube, diese Flexibilität müssen wir uns auch erhalten, aber unseren Kindern müssen wir trotzdem mitgeben, dass man Dinge zu Ende bringt und sich vorher überlegt, was man tut. Aber auch, nach einer Erfüllung zu streben. Die Chance, seine Ideen und Vorstellungen zu verwirklichen, letztlich auch die Freude am Arbeiten zu vermitteln, das ist wichtig. Da müssen wir uns als Eltern die innere Offenheit bewahren, auch mal zu sagen, dass es ein Weg sein kann, der nicht so gradlinig ist. Leistung ist in unserer Gesellschaft ein wichtiges Gut, das uns auch großgemacht hat. Aber manchmal sind es die verschlungenen Wege, die ans Ziel führen. Heutzutage sind wir außerdem durch unterschiedliche Bildungskonzepte herausgefordert, weil wir auch international im Wettbewerb stehen. Da ist es auch nicht schlecht, wenn man von anderen etwas lernt.

Trotzdem hat man natürlich ein Bild vor Augen, am Ende malt das Bild aber das Kind aus. Der Job von Eltern ist es, den Rahmen so zu stecken, dass genug Luft zum Atmen bleibt, es aber trotzdem noch einen Rahmen gibt. Unser Anspruch ist: fordern und fördern. Denn dadurch wird auch offensichtlich, wer Unterstützung braucht. Wir wollen eine Ermöglichungskultur schaffen, aber das setzt voraus, dass man weiß, wo man steht.  

An den Schulen sind aktuell Probleme wie Lehrermangel und Unterrichtsausfall kritische Themen. Welche Maßnahmen plant Ihre Regierung, um sich diesen anzunehmen?

Der Unterrichtsausfall ist für mich die stille Krise unseres Landes, weil das unseren Kindern Chancen verbaut. In Thüringen fällt derzeit jede zehnte Unterrichtsstunde aus. Das ist ein Zustand, den ich nicht akzeptieren kann. Nicht als Familienvater und auch nicht als Ministerpräsident. Deswegen ist es eine unserer Top-Prioritäten, dieses Problem anzugehen. Ich habe schon in den ersten 30 Tagen meiner Amtszeit 600 junge, angehende Lehrer angeschrieben und eingeladen, in Thüringen zu bleiben. Ich habe ihnen bessere Einstellungschancen und Übernahmegarantien angeboten, weil ich wirklich möchte, dass wir dieses Problem lösen.

Das geht natürlich mit einer verstärkten Einstellung junger Lehrkräfte, indem wir ihnen frühzeitig Angebote machen, damit sie nicht in andere Bundesländer abwandern. Auch Seiteneinsteigern wollen wir den Einstieg erleichtern. Das Zweite ist, dass wir die jetzigen Lehrer von Bürokratie befreien wollen, damit sie mehr Zeit haben, vor der Klasse zu stehen. Und das Dritte wird sein, dass wir Lehrern, die kurz vor dem Ruhestand sind, das Angebot machen, länger zu bleiben, um auch auf diese Erfahrungswerte zurückzugreifen. 

Mein Ziel ist es, dass jeder Jugendliche die Möglichkeit bekommt, einen Ausbildungsplatz zu finden. Aktuell verlassen zehn Prozent der Thüringer Jugendlichen die Schule ohne Abschluss. Das müssen wir ändern. Dafür möchten wir den Tag in der Praxis flächendeckend in ganz Thüringen einführen, um eine Brücke von der Lebenswelt der Jugendlichen zu den Unternehmen zu schlagen. Das ist besonders für die Regelschulen wichtig, die für mich das Herzstück der Thüringer Schullandschaft sind. Und wenn uns das gelingt, werden wir auch für Gymnasiasten die entsprechenden Angebote schaffen. Es sollte kein Automatismus sein, dass man studieren muss, nur weil man Abitur gemacht hat. Es gibt so vielfältige attraktive Angebote in Thüringen.

Diese Probleme scheinen im ländlichen Raum besonders gravierend zu sein. Welche Ansätze verfolgt Ihre Regierung, um diese Gebiete explizit zu unterstützen?

Wir beginnen zunächst einmal damit, dass wir Zulagen für Lehrer zahlen, die Bedarfsfächer unterrichten oder in besonders unterversorgte Regionen gehen. Da reagieren wir sehr spezifisch und steuern nach, wo es regional nötig ist – auch in Bezug auf Finanzierung und Themen wie Hortbetreuung und die Ausstattung mit moderner Technologie. Ich glaube, dass wir da zu einem neuen Miteinander zwischen dem Freistaat Thüringen und dem, was die kommunale Familie ausmacht, gekommen sind.  

Die untergründige Frage ist aber, was Schulen im ländlichen Raum besonders macht. Da geht es einerseits darum, die Schulabdeckung hinzubekommen, andererseits aber auch um persönliche Nähe. Die Leute kennen sich untereinander, wodurch die regionalen Unternehmen bessere Vermittlungschancen durch die unmittelbare Nähe haben, als wir es in größeren Städten erleben. Diese Chancen wollen wir in den Vordergrund rücken, um den Kindern als helfende Hand zu dienen. Zugreifen müssen sie am Ende aber selbst, das können wir ihnen nicht abnehmen.

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